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Mentale Stärke und menschliche Grösse sind viel wert (Gastblog)

Wir alle haben noch die faszinierenden und eindrücklichen Bilder der Paralympics von Rio präsent. Unser Gastblogger Lukas Christen gewährt uns einen interessanten Einblick in die ganz besonderen Anforderungen an mentaler Stärke und insbesondre menschlicher Grösse, welche an Behindertensportler gestellt werden.

Mentale Stärke als ultimatives Element

Im Sport ist mentale Stärke der entscheidende Faktor, denn Talent, Voraussetzung, Training, Ausrüstung und das Umfeld befinden sich oft auf vergleichbarem Niveau. Im Behindertensport steht mentale Stärke erst Recht für das ultimative Element. Zum Wettkampf im Sport kommt noch das tägliche, lebenslange Überwinden des Handicaps hinzu. Das belastet nicht nur körperlich, sondern vor allem psychisch. Ein Paralympian zeigt ganz besondere mentale Stärke. Menschliche Grösse hingegen braucht er, um mit einem Handicap umgehen zu können, das viel perfider ist, als die körperliche Versehrtheit: Die Benachteiligung des Behindertensportes in der Gesellschaft. Es ist unverständlich und ärgerlich, dass die mediale Beachtung sowie die Unterstützung durch Sponsoren noch immer buchstäblich hinter den gewöhnlichen Olympiaden her hinken. Das hat kommerzielle, aber auch psychologische Gründe: Es liegt im menschlichen Naturell, dass man sich dem Vollkommenen und Perfekten zuwendet und sich vom Versehrten und Beschädigten abwendet. Nur aus Mitgefühl und aus der Pflicht zum politisch korrekten Verhalten heraus, lassen sich Medien und Sponsoren nicht von Usain Bolt hin zu Scott Reardon bewegen. Diese Situation ist für viele Behinderte ein zusätzlicher Dämpfer. Paralympians benötigen deshalb nicht nur mentale Stärke, das körperliche Handicap zu überwinden. Es braucht auch menschliche Grösse, um das Handicap der mangelnden Akzeptanz zu ertragen.

Akzeptieren der eigenen Situation ist die Basis für solide Wertschöpfung

Der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm aus Deutschland scheint damit zu kämpfen. Ihm genügen die Paralympics als Bühne für seine grandiosen Spitzenleistungen nicht. Er will bei den „normalen“ Sportlern mitmachen, weil er mit Sportprothese sogar weiter springt, als Nichtbehinderte. Seine Intention ist nachvollziehbar. Ich kenne sie aus meiner Zeit als Paralympics-Champion: Man wäre gerne einer von ihnen; von denjenigen, die es geschafft haben, auch die Medien und Sponsoren zu überzeugen. Doch der Pfad dorthin führt nicht über wissenschaftliche Analysen und Gerichtsbeschlüsse. Ein anderer Weg führt zum Ziel.

Sich für Werte entscheiden

Wer den Fokus auf den wahren Wert der Paralympics legt, hat bessere Trümpfe in der Hand. Es gilt, die mentale Stärke der Paralympians zu zeigen und diese mit ihrer menschlichen Grösse zu verbinden. Dieser Mix zeigt den wahren Wert der Paralympics. Zusammen mit professioneller Verbandsarbeit lassen sich Medien und Sponsoren für Kooperationen gewinnen. Doch es braucht vor allem eines: Athletinnen und Athleten, die diesen Mix verkörpern und leben. Markus Rehm tut der paralympischen Bewegung deshalb einen Bärendienst. Wenn er wissenschaftlich belegen und gerichtlich durchsetzen will, dass er als Nicht-Behinderter zu gelten hat, welche menschliche Grösse zeigt er damit gegenüber seiner eigenen Realität und dem Status der Paralympics? Eine zu geringe.

Der Verlockung von Glamour widerstehen

In den vergangenen vierzig Jahren haben sich die Paralympics technisch stark weiterentwickelt. Die Leistungen sind in vielen Disziplinen auf hohem Niveau angekommen. Die Spitze, vor allem im Aushängeschild Leichtathletik, ist breiter geworden. Viele Paralympians sind inzwischen Profis. In einigen Ländern wird Paralympics-Gold mit mehreren Zehntausend Euro belohnt. Eine Annäherung an Akzeptanz und Gleichstellung ist auszumachen. Doch damit steigen die Doping-Versuchung und die Gefahr, Sportanlässe zu Casting-Shows verkommen zu lassen. Bisher war es genau umgekehrt: Viele Paralympic-Stars zeichneten sich durch viel Bodennähe und sympathische Bescheidenheit aus. Kaum Glamour, wenig Show, kein in Pose werfen. Viele Paralympians haben sich eine heitere und fröhliche menschliche Grösse bewahrt, die sie erdet. Sport ist für sie eine Chance und ein Geschenk zugleich. Sie verhalten sich weniger so, als wäre Sport eine umtriebige Werbeplattform, bei der man Sekunden vor dem Start noch den Ohrenschmuck zurechtrücken, oder die Tätowierung zur Schau stellen muss. Das macht die Athletinnen und Athleten auf stille und kraftvolle Art sympathisch.

Der innere Wert ist mehr als Goodwill

Hier liegt ein Unterschied zu einigen vermeintlich Nichtbehinderten. Er könnte deshalb eine grosse Perspektive für die paralympische Bewegung sein: Diese Dankbarkeit und Wertschätzung dem Leben und dem Sport gegenüber zu zeigen und zu betonen; ausgedrückt im Mix aus mentaler Stärke und menschlicher Grösse. Damit lassen sich Medien und Sponsoren überzeugen und gewinnen. Und wenn nicht, dann haben die Paralympics und ihre Athletinnen und Athleten nichts verloren. Im Gegenteil: Sie haben sich ihre Würde bewahrt. Und das ist viel wert. Im Grunde ist genau das der wahre, ruhige und kräftige Wert der Paralympics in Zeiten von Casting-Shows und Personality-Hipes.


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Erstellt am 14. Oktober 2016 von Lukas Christen

Lukas Christen (50) ist ehemaliger Behindertensportler aus Sempach. Er gewann mehrere Paralympics und Weltmeisterschaften über 100m, 200m und im Weitsprung der Oberschenkelamputierten. Er arbeitet als selbständiger Management-Trainer und Coach in der Wirtschaft und im Sport sowie als Key-Note Speaker und Referent.

www.lukas-christen.ch

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